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Heimatlos



Ich möchte weinen und tue es auch, als ich diese Zeilen schreibe. Es ist kalt und regnet. Er kommt mir entgegen und als erstes sehe ich seine Füße. Sie stecken in blauen Plastiklatschen, die oben offen sind.

Mein Blick wandert weiter nach oben, über seine zerbeulte, zerrissene Khaki-Hose, über seine Krücken, die alte Hände stützen, ein ehemals schönes Hemd unter einer abgetragenen Jacke und am Ende verweilen meine Augen auf seinem faltigen Gesicht. Er sieht aus wie ein lieber Weihnachtsmann, mit schwarzen klugen Augen, die von Trauer verschleiert sind.

Von ihm geht eine unglaubliche Verlorenheit aus. Suchend blickt er sich um, immer wieder, als ob er Ausschau hält nach einem vertrauten Gesicht, einer freundlichen Geste. Er fragt nicht nach Geld. Der Regen durchnässt seinen weißen Bart, seine dunklen Locken, die noch nicht ganz ergraut sind.

Und ich bleibe stehen, will ihn ansprechen, ihm Geld geben, aber viel lieber noch: ihn in den Arm nehmen. Ihm sagen, dass ich ihn sehe. Dass er nicht ganz allein ist auf der Welt. Er bleibt auch stehen, als hätte er mich gespürt, sieht sich um, sieht mich nicht. Ich bin unendlich berührt von seiner Erscheinung, weil ich genau sehen kann, dass er ein anderes Leben gelebt hat, vor vielen Jahren.

Ein Leben, das reich war an Verbindungen, Familie, Kindern und vielleicht Enkelkindern. Reich an Lachen, an gutem Essen und Hoffnung auf einen neuen Morgen. Und ich frage mich, was diesem Menschen passiert ist. Was ist seine Geschichte? Und warum gehen alle anderen an ihm vorbei, als würden sie ihn nicht sehen? Als wäre er kein Mensch.

Und ich spüre eine tiefe Verzweiflung in mir. Wie kann ich ihm nur helfen? Würden mein Geld oder eine freundliche Geste ihm wirklich helfen? Wären sie nicht wie ein Tropfen auf dem heißen Stein? Ich weiß wie man sich fühlt, wenn man heimatlos ist. Innerlich sind es viele Menschen und auch ich war es lange Zeiten in meinem Leben.

Aber äußerlich heimatlos zu sein, den eigenen Wurzeln entrissen und der Kälte und Härte dieser Welt schutzlos ausgesetzt… ich glaube wenige Menschen können sich vorstellen wie sich das anfühlen muss. Dabei haben wir die Brutalität dieser Welt doch alle auf die ein oder andere Art schon zu spüren bekommen. Wenn du lange genug verloren gehst, dich selbst vergisst, dann ist es unheimlich schwer wieder zurückzufinden in ein normales Leben.

Vieles, was für die meisten Menschen selbstverständlich zu sein scheint, ist es dann nicht mehr. Wenn du obdachlos bist, dann gehörst du nicht mehr dazu, zu dieser kapitalistischen Leistungsgesellschaft. Du hast keinen Wert mehr, da Wert an Leistung geknüpft wird um die riesige Maschine des Kaufens und Verkaufens immer schön am Laufen zu halten.

„Never stop a running system“ und dabei scheint es egal zu sein, dass Alte, Kranke und Heimatlose Menschen in den riesigen Zahnrädern der westlichen Gesellschaft zermahlen werden. Wer nicht hinterherkommt wird zurückgelassen, selber Schuld. „Jeder ist sich selbst der Nächste“ hat uns so weit von unserer Menschlichkeit entfernt, dass wir uns fragen müssen, was Menschlichkeit bedeutet.

Und noch etwas schmerzt mich ungemein. Ich habe es in (materiell) weitaus ärmeren Ländern gegenteilig erlebt: die, die nicht viel haben, teilen. Jedem wird geholfen. Vom Straßenhund, der mit gefüttert wird, über den heimatlosen alten Mann, der in einer Gruppe Anderer Wärme und Schutz am Feuer und eine Mahlzeit findet.

Weil es das ist, was uns menschlich macht: Mitgefühl.

Und ich will verdammt sein, wenn ich auch so abstumpfe, wie viele andere Menschen und mir zu Herzen nehme, was vergangene „Freunde“ einmal zu mir sagten. „Hanna, du fühlst zu viel Weltschmerz, du musst mehr Grenzen setzen.“

Achja, muss ich das? Sind nicht die ganzen künstlichen Grenzen in dieser Welt, der Grund warum uns die Menschlichkeit verloren geht?

Nein, ich werde nicht aufhören das Leid anderer in mein Herz zu lassen.

Denn ich weiß, dass genau da wo es mich am meisten schmerzt, meine Aufgabe liegt.

Also nehme ich meinen Schmerz und mache was daraus. Lege ihn in Worte und gebe diesem Mann eine Stimme, die gehört wird. Weil jedes Menschenleben gleich viel Wert ist, auch wenn wir das vergessen haben. Jeder von uns könnte an seiner Stelle sein.

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